Hallo Oma - Besuch am 4. Advent

Am 4. Advent sind immer alle zu Besuch gekommen. Damit sie an Heilig Abend Zeit in der eigenen Familie haben. Die Enkel sind inzwischen längst flügge geworden und haben auch schon mal den Freund oder die Freundin mitgebracht. 
Nachdenklich steht sie vor dem großen Ausziehtisch. Dieses Jahr wird er klein bleiben. Sehr klein. Entschlossen dreht sie sich um. Aus der Kommode holt sie das festliche Tischtuch. Und vier Kaffeegedecke. Tannengrün und vier Kerzen arrangiert sie in der Mitte, dazu die leuchtend rote Blüte des Weihnachtsterns. Und die Platte mit dem duftenden Stollen. Jetzt wird es Zeit! Um 16 Uhr kommen die Gäste. Sie holt die Teekanne aus der Küche und zündet die vier Kerzen an. Dann drückt sie den Einschaltknopf  ihres Computers. Die Enkel haben mit ihr geübt. Als sie die blaue Zeile für die Videokonferenz aktiviert, flackert der Bildschirm. Ein Fenster geht auf.  „Hallo Oma!“

Weihnachtszeit ist Besuche-Zeit. Aber dieses Jahr bleiben viele Stühle leer. Die Bibel erzählt zum 4. Advent von den betagten Eheleuten Abraham und Sarah. Sie spüren schmerzlich, dass sie allein bleiben werden, ohne Kinder. Manchmal schicken sie sich darein, manchmal ringen und manchmal hadern sie auch mit ihrem Gott. Da kommen drei Männer zu Besuch. Von Abraham wird erzählt, ihm war, als habe er in den drei Männern Gott persönlich gesehen. Nach dem Brauch der Gastfreundschaft werden sie von Abraham willkommen geheißen und von Sarah bewirtet. Es wird geredet. Über die Zukunft, über Kinder, über Lust und Liebe.  Sarah hört zu - und lacht. Ein verzweifeltes Lachen. Als der Besuch sich verabschiedet, lässt er ein Versprechen zurück: „Du wirst sehen, bald wirst du lachen vor Freude! – Oder sollte Gott etwas unmöglich sein?“ 

Ich möchte glauben, dass mehr möglich ist als das, was wir sehen und verstehen. Gerade in diesem Jahr. Dass da noch etwas Größeres ist als das, was jetzt unsere Wirklichkeit bestimmt. Für mich ist das Gott. Das ist meine große Hoffnung: dass es Gott möglich ist, zu Besuch zu kommen. In jedem Haus. Auf all den Stühlen, die jetzt leer bleiben. Ich hoffe, dass Menschen das spüren können. In einem Moment der Dankbarkeit oder der Stille, in einem Gespräch oder einem Brief, im warmen Schein einer Kerze, bei den Klängen eines Liedes oder den Worten der Weihnachtsgeschichte. 

Längst ist der Nachmittag in die Nacht übergegangen. Lange hat sie nicht mehr so viel geredet. Und gelacht. Sie schaltet den Computer ab. Der gemeinsame Adventskanon mit dreizehn Stimmen ist in Gelächter untergegangen. Sie summt ihn noch vor sich hin: Mache dich auf und werde Licht, denn dein Licht kommt! Dabei räumt sie die Kaffeetafel ab. „Für wen um Gottes Willen habe ich nur die anderen drei Plätze gedeckt?“ Sie schmunzelt. Und lacht. Bevor sie die leeren Teller zurück in den Schrank stellt, hält sie vor jedem Platz inne und sagt ganz leise: Vielen Dank für den Besuch!

Silvia Henzler

Autorin/Autor:
Pfarrerin Silvia Henzler
Evang. Luth. Kirchengemeinde St. Laurentius, Großgründlach
20.12.2020 (Woche 51/20)