Gesellschaft am Kipppunkt?

Stehen wir als Gesellschaft am Kipppunkt? Diesen Anschein erweckt die aktuelle Situation angesichts der hohen Umfragewerte der AFD und des aggressiven Nationalismus, der in unserem Land wiederauflebt. Uns dämmert gerade, dass es nicht damit getan ist, hohe Umfragewerte abzutun und auf das Prinzip Hoffnung zu setzen. Es braucht starke Reaktionen von allen gesellschaftlichen Akteuren. Auch von Religion und Kirchen. Sie können sich ihrer Verantwortung für die Demokratie schlechterdings nicht entziehen. Welche Strategien haben wir und was ist aus christlicher Sicht zu tun?
Es gilt, Standpunkte zu beziehen: „Christinnen und Christen sind Demokratinnen und Demokraten, oder sie sind keine Christen!“ So könnte ein kirchlicher „Glaubenssatz“ lauten. Denn der Faschismus zielt darauf, Menschen total, also auch von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren. Er speist sich aus der Verachtung gegenüber der Geschichte und ihrer zivilen Werte. Er deutet die Begriffe der demokratischen Gesellschaft bewusst um, um die eigenen totalitären Absichten zu verschleiern. Das alleinige Ziel ist es, zu provozieren, auszugrenzen und zu bekämpfen. Eine Politik, die Menschen gegeneinander aufbringt, die der Feindseligkeit untereinander immer neue Nahrung gibt, zerstört das Politische an sich. Sie ist daher auch ein Angriff auf all das, wofür die Kirche steht: auf die menschliche Person, ihre Freiheit und eine gerechte Gesellschaft.
Wichtig ist zweitens, dass sich gläubige Christinnen und Christen auf das uralte Prinzip der Unterscheidung der Geister besinnen und sich so gegen boshaft-unheilige Allianzen immunisieren. Denn Fakt ist – und das ist nicht erst eine Erkenntnis seit der Trump-Präsidentschaft: populistische Identitätspolitik sucht sich - und hat dies schon immer getan – ihre Legitimation in der Religion, mit der sie ihre Ideologie religiös begründet und zugleich transzendental überhöht. Da wird der Untergang des christlichen Abendlandes beschworen und das vorgeblich Christliche gegen die moderne Gesellschaft in Stellung gebracht. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass der traditionalistische Katholizismus und neurechte Vordenker keine Berührungsängste mehr haben. Letzteres macht deutlich: der christliche Glaube verhindert solch bösartige Allianzen nicht, aber mit ihm sind sie in keinster Weise zu rechtfertigen.
Können wir als Kirche zeigen, wie der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes tatsächlich dem Bösen widersteht? Das ist die Gretchenfrage, die uns derzeit im Ringen um die Demokratie gestellt wird und vor der wir uns bewähren müssen. Ich wünschte mir, dass die Bischöfe meiner Kirche vorangehen und sich öffentlich deutlich positionieren gegen eine demokratiefeindliche Bewegung, der nichts und niemand heilig ist. Das ist kein frommer Wunsch!
Dr. Monika Tremel, Pastoralreferentin, geschäftsführende Leiterin der Offenen Tür Erlangen
 

Dr. Monika Tremel

Dr. Monika Tremel, Pastoralreferentin,

geschäftsführende Leiterin der Offenen Tür Erlangen