Getragen sein

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort „Adlerflügel“ hören?
Ich stelle mir zuerst die mächtigen Schwingen eines Steinadlers vor. Bis zu zwei Meter kann die Spannweite eines solchen majestätischen Vogels betragen. Und trotz seiner Größe wirkt dieser Vogel im Flug leicht und elegant. 
In der Vorbereitung auf diesen Impuls bin ich besonders aufmerksam durch die Welt gegangen. Dabei sind mir viele Adlerflügel aufgefallen: ich konnte sie als Markenzeichen auf unterschiedlichen Artikeln, auf Fahrzeugen, Stadt- oder Familienwappen, auf Fahnen und Geldstücken entdecken.
Der Adler ist der stärkste und schnellste Greifvogel, er kann am höchsten fliegen und ist somit dem Himmel am nächsten. Als „König der Lüfte“ steht er als Symbol für Macht und Stärke, für besondere Größe und Ausdauer, für majestätische Erscheinung und kräftiges Zupacken, für Schnelligkeit und Kraft. Von der griechischen und römischen Mythologie über Kaiser Karl den Großen bis hin zur Bundesrepublik Deutschland steht der Adler als Attribut für Weitblick, Mut und Kraft.
Wenn ein Adlerjunges flügge geworden ist, muss es fliegen lernen. Während es zu Beginn seines Lebens ganz geborgen im Nest rundum versorgt wird, kommt mit dem Flügge werden der Tag, an dem die Mutter damit beginnt, das Nest mehr und mehr abzubauen. Sie reißt Äste aus, so dass dieses Nest immer ungemütlicher wird, bis sie schließlich das Adlerküken an den Rand des Horstes schiebt und in die Tiefe stößt. 
Im Fallen will der unerfahrene Vogel hilflos seine Flügel gebrauchen, doch die Fallkraft zieht ihn unaufhaltbar nach unten. Der kleine Vogel kann sich allein nicht retten. Bevor er auf dem harten Untergrund aufschlägt, fängt die Adlermutter, die mit kräftigen Schlägen unter ihr Kind geflogen ist, diesen einige Meter über dem Boden auf. Getragen von den mächtigen Mutterschwingen kehrt das Vogeljunge in sein Nest zurück. Diese Flugstunden wiederholen sich so oft, bis der kleine Vogel seine Lektion gelernt hat und seine eigenen Schwingen gebrauchen kann.
„Ihr habt gesehen, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe.“ (Ex 19, 4) Dieser Satz steht im Bibeltext aus dem Buch Exodus an diesem Wochenende. Das Volk Israel beschreibt in diesem Text Jahwe, seinen Gott, als einen, der sein Volk auf Adlerflügeln getragen hat. Dieses Getragen sein hat das Volk Israel bei seinem Weg aus der Sklaverei in Ägypten heraus in die Freiheit erlebt und dieses Erlebnis auch für sich so gedeutet. Dieser Weg ist dabei mehr als die Wanderung einer Volksgruppe von einem Lebensbereich in einen anderen. Er ist mehr als die Befreiungsbewegung einer unterdrückten Volksgruppe. Dieser Weg wird für das Volk Israel zu einer Begegnung mit Jahwe, dem Gott, der bei seinem Volk bleibt. Dieser Weg führt in eine Lebensgemeinschaft des Volkes mit einem nahen Gott, der Anteil nimmt am Leben der Menschen.
„Getragen sein“, bei diesem Begriff fällt mir ein Moment aus meinem Urlaub in der Bretagne ein. Bei Sonnenschein und mit türkisfarbenem Wasser konnte ich es genießen, mich vom Meerwasser des Atlantiks tragen zu lassen. Alles Schwere und Lastende der letzten Zeit konnte ich im Meer versinken lassen und mich leicht und getragen fühlen von den Wellen. Das war pure Entspannung - getragen vom Wasser konnte ich wunderbar entspannen und auftanken.
„Getragen sein“, das erlebe ich in meinem Alltag als Seelsorger immer wieder, wenn mir Ehepaare nach fünfzig Jahren Partnerschaft erzählen, wie dankbar sie das Miteinander erleben, in dem sie schwere und wunderbare Zeiten bestanden haben, wenn trauernde Menschen sich von einem Wort oder einer Geste gestärkt fühlen und einen Schritt auf dem Trauerweg weiter gehen können, wenn ein kurzer Gruß oder ein unerwarteter Anruf plötzlich neue Perspektiven eröffnet.
Ein solches Getragen sein wünsche ich allen Leserinnen und Lesern in den nächsten Wochen, in denen sich viele die Zeit für Urlaub und Erholung hier oder in anderen Gegenden nehmen, ein Getragen sein, das uns die Möglichkeit eröffnet, Altes hinter uns zu lassen und uns gestärkt auf neue Wege führt. Ein Getragen sein, das den Blick dafür öffnet: es gibt einen/eine, der/die mit uns geht, der/die uns auch in ausweglosen Situationen da bleibt und uns neue Perspektiven öffnet.
 

Thomas Matzick
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Thomas Matzick,
Pastoralreferent im Katholischen Seelsorgebereich Aurach-Seebachgrund