Einfache Lösungen auf Netflix

Im Sommer hat mich Corona erwischt. Um die Ansteckungsgefahr für die Familie möglichst gering zu halten, habe ich mich (selbstverständlich) tagelang weitestgehend in nur einem Raum in der Wohnung  aufgehalten. Zuerst habe ich geschlafen – ich war ja auch krank. Dann hab ich gelesen – endlich Zeit dafür! Und dann wurde mir langweilig . . . und ich begann eine Netflix-Serie zu schauen. Es geht um eine Familiengeschichte. Vier Generationen leben zusammen irgendwo an der Küste in der Nähe von Baltimore. Ein Haus in Strandnähe in einem kleinen Städtchen  - wunderbare heile amerikanische Welt!
Es geht um Liebe. Paare finden sich und gehen wieder auseinander und finden sich neu (oder auch nicht). Geschwisterliebe. Liebe zwischen Eltern und Kindern. Es wird geredet und gelacht, Probleme werden gemeinsam gelöst.
Da gibt es viele allzu einfache Lösungen. Das Leben ist nicht so glatt und leicht und beherrschbar wie es mir die Serie vorspielt. Ich mache mir Sorgen um das, was geschieht in der Welt. Krieg und Ungerechtigkeit. Zunehmende finanzielle Belastungen der Haushalte. Die vom Menschen immer weiter belastete Natur. Das immer noch ungewohnte Leben mit einem unberechenbaren Virus. Verbreitung von Hetze und Hass und Menschenverachtung ohne Interesse an Fakten. Da sind keine einfachen Lösungen in Sicht. Und ich weiß gar nicht, wie diese Familie in der Serie das macht, so viel Zeit zu finden, miteinander am Tisch oder ums Lagerfeuer zu sitzen und sich miteinander wohl zu fühlen!
Und trotzdem berührt mich etwas an dieser Serien-Familie. Wahrscheinlich sehne ich mich auch nach so einer heilen Welt, in der das Leben nicht so anstrengend und voller Angst und Sorge ist wie es eben ist, nach einer Welt, in der die Menschen mit mehr Verständnis füreinander umgehen.
An diesem Sonntag steht in den evangelischen Gottesdiensten eine biblische Geschichte im Mittelpunkt, die für Viele zentral ist für jedes christliche Handeln. Ein Mensch wurde verletzt. Er braucht Hilfe. Zwei gehen vorbei. Erst der Dritte hilft. Er hat Mitleid. Er denkt nicht lange darüber nach. Er tut es einfach. Ein Beispiel für Nächstenliebe.
Der Schlüssel dafür ist meine Haltung zum anderen Menschen – und die hat mit meiner Haltung zu mir selbst und zu Gott zu tun. „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das Doppelgebot der Liebe ist ein Dreifachgebot. Gott, der andere Mensch, ich.
Es geht auch um mich. Um die Liebe zu mir selbst. Ich verstehe darunter, dass ich mit mir selbst im Reinen bin, Vertrauen in mich selbst habe ohne selbstverliebt und narzisstisch zu sein, dass ich ehrlich akzeptiere wie ich bin mit all meinen Stärken und Schwächen. Genau dazu hilft mir Gott. Ich vertraue darauf, dass ich von Gott gesehen werde, dass ich in seinen Augen wertvoll bin. Alles andere wird dann leichter. Es tut gut, diese Hilfe und Liebe Gottes immer wieder zu spüren. Da wird es leichter, die große und kleine Not des anderen Menschen zu sehen und nicht vorüber zu gehen.
Aber: ich übe noch, denn die einfachen Lösungen sind selten im Leben und auch in der Liebe!


Gerhild Rüger
Pfarrerin in der evangelischen Kirchengemeinde Uttenreuth und stellvertretende Dekanin im Dekanatsbezirk Erlangen.

stellv. Dekanin Gerhild Rüger